Der schielende Mond

 

Kurzfassung

"Darstellung des Phänomens mithilfe der Himmelskugel: Der Mond blickt (ungefähr) entlang der Ekliptik zur untergehenden Sonne." Zitat aus MNU Journal - Ausgabe 4.2017 - ISSN 0025-5866 (s.u.), Abb. 14, die hier nachgestellt wird:

Mond - Ekliptik - Sonne

Mit "Der Mond blickt (ungefähr) entlang der Ekliptik zur untergehenden Sonne" ist wohl gemeint: Wenn man sich mit einem Astronomieprogramm die Phasengestalt des Mondes bei untergehender Sonne ansieht, dann zeigt die Symmetrieachse der Phasengestalt nicht direkt zur Sonne, sondern hat die Richtung der Tangente an "die Ekliptik" (gelbe Kurve). Wo ist das Problem? Weil sich Licht geradlinig ausbreitet (wenn man von schwarzen Löchern absieht :-), kann es wohl keinen Bogen "entlang der Ekliptik" machen. Aber weshalb hat dann der Mond einen "Silberblick"? Das könnte auch vom verwendeten Astronomieprogramm abhängen, und den dort angebotenen Projektionen, z.B. stereographisch, orthographisch, azimutal gleiche Flächen/Strecken, gnomonisch, Mercator,...
Allerdings sieht man "dieses Phänomen" auch mit seinen eigenen Augen: Wenn die Sonne bei zunehmendem Halbmond untergeht, zeigt die Symmetrieachse der Phasengestalt des Halbmonds waagrecht und je nach Jahreszeit mehr oder weniger weit über die Sonne.

Langfassung

Wir versetzen uns in die Perspektive eines außerirdischen Beobachters:

 

Mond - Erde - Sonne

Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Earth-Moon_System.jpg
From 4 million miles away on December 16, 1992, NASA's robot spacecraft Galileo
took this picture of the Earth-moon system.

 

Schielt der Mond? Natürlich nicht - er hat ja nicht zwei Augen!

Dennoch liest man z.B.:
"Schielt der Mond? Die Mondsichel weist stets exakt zur Sonne – so muss es sein, weil sich Licht geradlinig ausbreitet. Doch manchmal schert sich die Natur nicht darum!" Von H. Joachim Schlichting, SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT Oktober 2012.

Oder in "Der Silberblick des Mondes und die Zentralperspektive", UDO BACKHAUS - HANS JOACHIM SCHLICHTING, MNU Journal - Ausgabe 4.2017 - ISSN 0025-5866:
"Der aufmerksame Beobachter stößt, wenn er die Entstehung der Phasengestalt glaubt verstanden zu haben, allerdings auf ein Problem: Die von der Sonne beleuchtete Mondseite scheint oft nicht in Richtung Sonne zu »blicken«, sondern mehr oder weniger deutlich oberhalb an ihr vorbei zu »schielen«. Genauer: Wenn man die Symmetrieachse der Phasengestalt geradlinig verlängert, scheint die Linie nicht auf die Sonne zu treffen. Sie verfehlt die Sonne umso weiter, je größer der Winkel zwischen dem zunehmendem Mond und der Sonne wird.
Dennoch ist das Phänomen immer wieder Gegenstand von Publikationen, in denen es aus astronomischer, wahrnehmungspsychologischer und lebensweltlicher Sicht beschrieben wird (z. B. GLAESER, 2009 und SCHOELKOPF, 1998, STEINRÜCKEN,o. J., SCHOTT, o. J., MAYER, o. J., FEUERSTEIN, 2013). In einigen dieser Arbeiten wird allein schon durch die Komplexität der Darstellung der Eindruck erweckt, das Phänomen sei kompliziert und nur schwer erklärbar, in anderen Äußerungen (BUTH, 2011, OBERSCHELP, 2012) zeigen sich grundsätzliche Verständnisschwierigkeiten."

Die anthropozentrische Sprache (der Mond schielt, die Mondseite blickt, die Linie trifft,...) in manchen Artikeln ist immer wieder faszinierend! Ist sie am Ende der Grund für "grundsätzliche Verständnisschwierigkeiten"?  Die Wurzeln dieses Scheinproblems reichen übrigens (mindestens) zurück bis zu Martin Wagenscheins "Der Mond und seine Bewegung". Zitat:

mikomma.de

«Hat man aber einmal das „Spähen nach den Strahlen der Sonne“ gefunden (exakt gesprochen: dass das auf der Verbindungssehne der beiden Spitzen der Mondsichel errichtete Mittellot immer auf die Sonne zielt) und hat man einmal die ungeheure Möglichkeit zu denken gewagt, dass der Mond ein „Ding“ sei, eine Kugel, gemacht aus „Erde“, so kann angesichts des Abendhimmels von Abb. 1 [s.o., kopiert aus "Der Mond und seine Bewegung" und mit zwei Kommentaren versehen] das Entscheidende geschehen: die Himmelsglocke bricht zusammen, der Mond schwebt „vorn“ und die Sonne sinkt in einen tiefen Abgrund in den Raum zurück, wobei sie sich zu furchtbarer Größe aufbläht. Dies kann das Erlebnis eines Augenblicks sein. Es kann niemals „gelernt“ werden. Jeder muss es einmal vor dem Himmel als eine Erschütterung erfahren, wenn er wirklich aufnehmen will, was er „weiß“.»
Der Versuchung, diese "Didaktik der Physik" (oder "Lyrik der Physik"?) mit weiteren Kommentaren zu versehen, kann man kaum widerstehen. Aber wir kümmern uns besser um die Fakten der Physik, die übrigens auch bei Wagenschein zu finden sind, aber so verklausuliert, dass sie bei manchen Autoren "grundsätzliche Verständnisschwierigkeiten" hervorrufen.

Die Lösung des Scheinproblems

Wir nähern uns dem "Problem des schielenden Mondes" von außen: Jede Kugel, die in etwa die gleiche Entfernung wie die Erde von der Sonne hat, zeigt die gleiche Schattengrenze (Terminator) wie im Bild von NASA's robot spacecraft Galileo. Dabei ist mit "jede Kugel" z.B. Erde, Mond, Wolke, Ballon, Tischtennisball,... gemeint, und mit "in etwa" der Radius der Mondbahn. Zunächst erscheint eine Animation angebracht, die die Größenverhältnisse veranschaulicht:

 

Der Durchmesser der Sonne beträgt ungefähr das 1,8-fache des Durchmessers der Mondbahn. Der Abstand Erde-Sonne ist ungefähr 400 mal so groß wie der Abstand Erde-Mond. Sonne und Mond haben von der Erde aus betrachtet den gleichen scheinbaren Winkeldurchmesser.
Wenn wir den Mondbahnradius als Einheit nehmen, und sich die Erde im Ursprung befindet, dann befindet sich der zunehmende Halbmond bei  +1 und der abnehmende Halbmond bei -1 auf der Hochachse. (Preisfrage: wie groß sind in diesem Maßstab die Durchmesser von Erde, Mond und Tischtennisball?)

Wir versuchen es mit einer kleinen Animation: Weil von der Erde aus gesehen die Sonne gleich groß erscheint wie der Mond, sollte die Sonne auf der Rechtsachse bei 1 stehen, und der zunehmende Halbmond nicht "waagrecht nach rechts blicken", sondern "diagonal nach unten" (bei Sonnenuntergang). Dann gäbe es aber weder Erde noch Mond, weil die Sonne eine Kugel ist. Wir beginnen deshalb die Animation bei 2,5 und stellen nur den Durchmesser der Sonne dar, sowie die Lichtstrahlen der Sonnenscheibe, die Erde und Mond erreichen.

Der Abstand der Sonne wird oben angezeigt. Von 2,5 bis 20 geht es im Sekundentakt. Dann mit 1/10s weiter zu einem Zwischenstopp bei 100 (1s), und wieder mit 1/10s weiter bis zum tatsächlichen Abstand der Sonne (400, 2s).

Von der Zentralperspektive zur Parallelperspektive

Zentralperspektive
Was lernen wir daraus?
1. Die Sonne ist sehr groß und sehr weit entfernt. Wenn sie untergeht, "steht" sie nicht am Horizont (Entfernung ~100km), sondern "viel weiter weg".
2. Die Lichtstrahlen der Sonne, die Erde und Mond treffen, sind praktisch parallel. (Rechenübung: Unter welchem Winkel erscheint der Durchmesser der Mondbahn von der Sonne aus gesehen?)
3. Der Abstand der Lichtstrahlen der Sonne, die Erde und Mond erreichen, beträgt bei Halbmond einen Mondbahnradius und bei Neu- und Vollmond kann er Null werden (Finsternisse).

Klingt alles banal, aber so ist es! Aber weshalb ist dann das "Phänomen des schielenden Mondes immer wieder Gegenstand von Publikationen"? Dafür gibt es ebenfalls einen banalen Grund: "Die Symmetrieachse der Phasengestalt", also der Umriss (2D) wird gleichgesetzt mit der Symmetrieachse der beleuchteten Mondhalbkugel (3D):

"Die Mondsichel weist stets exakt zur Sonne – so muss es sein, weil sich Licht geradlinig ausbreitet?"

Ja, Licht breitet sich geradlinig aus. Aber die "Mondsichel" (oder Phasengestalt) ist eine Projektion einer mit parallelem Licht beleuchteten Kugel auf eine Ebene senkrecht zur Blickrichtung des Beobachters. Da helfen auch keine "Beweisfotos" (Panorama, oder Fischauge), oder Tipps zum "gekrümmten Lichtweg entlang der Ekliptik" mit vom Mond zur Sonne gespannten Schnüren oder Drehen des Kopfes um "geeignete Achsen".

Um den 2D -> 3D Trugschluss zu veranschaulichen, umrunden wir den Mond in Gedanken oder mit einem Orbiter. Wenn wir das in der Ebene der Ekliptik tun (und der Mond auch in dieser Ebene steht, wie im Folgenden immer angenommen), sieht das wie in nebenstehender Animation aus.
Die Darstellung ist leicht gekippt, um die Ekliptikebene (x-y-Ebene, grau) anzudeuten.
Der schwarze Pfeil gibt die Richtung der Symmetrieachse der Phasengestalt (2D) an (er könnte auch nach links zeigen). Der rote Pfeil zeigt zur Sonne (3D). Natürlich müssen beide Pfeile immer in der Ekliptikebene liegen, aber der schwarze Pfeil muss nicht immer mit dem roten identisch sein, mit einer Ausnahme: "Halbmond". Dann zeigen beide Pfeile nach rechts, bzw. auf der Erde nach Westen (bei zunehmendem Halbmond im Frühjahr oder Herbst). Das ist auch in Ordnung so, weil sich in diesem Maßstab (Monddurchmesser = 2) die Sonne bei ihrem Untergang (von der Erde aus gesehen) "am Ende der y-Achse" befindet (bitte nachrechnen, wo genau :-).
Bei Halbmond stimmt also die Aussage "Die Mondsichel weist exakt zur Sonne" (aber nicht stets!). Aber genau dann scheint der Mond ja "weit über die Sonne zu blicken" (je nach Jahreszeit mehr oder weniger weit). Aber ich garantiere Ihnen: Wenn die Schattengrenze einer von der Sonne beleuchteten Kugel (egal in welcher Höhe über dem Horizont) genau senkrecht steht, dann müssen Sie sich nur um 90° drehen, um die Sonne am Horizont (in 0° Höhe) zu sehen.
Der schielende Halbmond
Wie sieht der 2D -> 3D-Trugschluss bei Neumond aus? Die Animation beginnt kurz vor Neumond mit der abnehmenden Mondsichel und endet kurz nach Neumond mit der zunehmenden Mondsichel.

Bei Neumond oder bei Mondfinsternis steht die Sonne sicher hinter dem Mond (in Richtung des roten Pfeils. Ich glaube nicht, dass sie von dort "nach rechts unten" (in Richtung des schwarzen Pfeils) springt, wenn der Mond an ihr vorbeizieht.

D.h., gerade dann, wenn der Mond nicht "schielt", weicht die Richtung der Lichtstrahlen, die den Mond erreichen (3D) besonders stark, nämlich um 90°, von der "Blickrichtung" des Mondes ab.




Der schielende Neumond 
Den Neumond sieht man nicht. Aber bei Vollmond (und kurz davor oder danach), ist eigentlich jedem klar, dass das Licht der Sonne nicht einen krummen Weg "entlang der Ekliptik" nimmt, sondern die Sonne geradeaus hinter dem Betrachter des Vollmonds steht. Wer also bei aufgehendem (fast) Vollmond die Sonne sucht, sollte sich besser nicht den Hals bei der Drehung um eine geeignete Achse verrenken, wenn er der "Blickrichtung des Mondes entlang der Ekliptik" folgt, sondern sich einfach umdrehen. Der schielende Vollmond 
Wir versetzen uns noch einmal in Gedanken in "NASA's robot spacecraft Galileo", und nehmen an, dass sich innerhalb von zwei Wochen der Blickwinkel auf den Mond nicht wesentlich ändert. Dann würden die nebenstehenden Aufnahmen des Mondes entstehen, und die im Ursprung des Koordinatensystems gedachte Erde hätte die gleiche Phasengestalt wie der Mond.
Von der Erde aus gesehen kann die Symmetrieachse der Phasengestalt des Mondes aber in viele Richtungen zeigen, je nachdem, wo der Beobachter auf der Erde steht. Nehmen wir an, der Beobachter steht bei Sonnenuntergang auf der x-y-Ebene (= seine Horizontebene), dann sieht er die Sonne "am Ende der y-Achse". Bei Neumond blickt er auf die nicht beleuchtete Halbkugel des Mondes, und bei Vollmond sieht er die beleuchtete Halbkugel. Kurz vor oder nach Neumond oder Vollmond steht aber die Symmetrieachse der Phasengestalt fast senkrecht auf der y-Achse, also der Richtung der Lichtstrahlen.
Bei Halbmond liegt die Blickrichtung auf den Mond genau in der Ebene der Schattengrenze (von Mond und Erde), auf der die Lichtstrahlen der Sonne (praktisch) senkrecht stehen. Die Symmetrieachse der Phasengestalt und die Richtung der Lichtstrahlen stimmen überein und verlaufen in knapp 400000km Abstand (praktisch) parallel zur y-Achse, "zeigen also weit über die Sonne, die am Horizont untergeht".
Sie vermissen eine Mondsichel? Dazu müssen Sie sich nur vorstellen, wie der Mond z.B. im ersten Sechstel der Darstellung vom Ursprung aus betrachtet aussieht :). Oder Sie nehmen einen Tischtennisball, beleuchten ihn mit einer Schreibtischlampe, und betrachten ihn aus allen möglichen Richtungen :)).
Mondphasen richtig 
Mit anderen Worten (die roten Pfeile zeigen zur Sonne): Wenn es richtig wäre, dass die Sonne "entlang der Ekliptik zu finden ist", dann hätte Galileo im Laufe zweier Wochen diese Aufnahmen gemacht, bzw. obiger Beobachter würde immer nur den Halbmond (oder den halben Mond?) sehen:

Seht ihr den Mond dort stehen?  
Er ist nur halb zu sehen,
und ist doch rund und schön.  
So sind wohl manche Sachen,  
die wir getrost belachen,      
weil unsre Augen sie nicht sehn.
Mondphasen falsch 
"Am überzeugendsten ist schließlich eine Schnur, die man so vor die Augen spannt, dass sie Mond und Sonne scheinbar verbindet. Diesmal – man muss es selbst gemacht haben, um es zu glauben – verschwindet das „Schielen“ auf einen Schlag." (Schlichting, H. Joachim. In: Spektrum der Wissenschaft 43/10(2012), S. 46-48)


Vielleicht hilft beim Spannen von Schnüren, dem Verbiegen von Lichtstrahlen oder beim Übergang von der Zentralperspektive zur Parallelperspektive bei geeigneter Nick- und Drehbewegung ja auch nebenstehende Animation für 50° nördlicher Breite:

Im Laufe eines Tages bewegt sich die Ebene der Ekliptik (gelb). Zur Orientierung ist noch die Äquatorebene (blau) und die Horizontebene (grau) dargestellt.

Auf anderen Breitengraden sieht das anders aus, siehe unten.
Ekliptik
Ekliptik
Ekliptik
Hier ist noch ein Beweisfoto. Wenn man es vergrößert, sieht man auch den Mond dort stehen.

Und wo steht die Sonne?
Phasengestalt
Weitere Scherzfragen: Am 16.07.19 sah der Mond zu später Stunde so aus.

Wo stand die Sonne? Und die Erde? Und der Fotograf?

Alle "grundsätzlichen Verständnisschwierigkeiten" beseitig?
Mondfinsternis 2019

© mikomma.de (VGWORT)

Links: Analemma | Venuszyklus | Sternfunkeln Lagrangepunkte, stabile Orbits und Trojaner | Dieter Hildebrandt

 

Moderne Physik mit Maple

HOME | Physik | Elektrizität | Optik | Atomphysik | Quantenphysik | Top