Samstag, 9. Dezember 1995 (und auch noch 20xx aktuell...)

 

Dieser Bericht zum Einsatz des Computeralgebra-Systems (CAS) Maple im Schuljahr 93/94 in Baden-Württemberg ist die abschließende Ergänzung zum Zwischenbericht vom 1. Februar 94. Die dort noch vorläufig formulierten Erfahrungen und Urteile haben sich voll bestätigt, so daß an dieser Stelle nur die wichtigsten Punkte wiederholt werden: Maple eignet sich schon jetzt uneingeschränkt zum Einsatz im Mathematik- und Physikunterricht auf fast allen Klassenstufen. Nachdem die Entwicklung schnell voranschreitet, ist zu erwarten, daß zur Jahrtausendwende die CASe an den Schulen Einzug halten werden. Das neue Unterrichtsmedium wird neue Lernziele und Methoden ermöglichen und erfordern.

Versuch einer Extrapolation

Einsatz von Maple

Neue Lernziele

  1. CAS
  2. Mathematik
  3. Physik

1. Vision 2000 -- die Zukunft hat begonnen

Die alten Maßstäbe verlieren teilweise ihre Gültigkeit. Ein alltäglicher Vorgang, den man aber angesichts der Trägheit mancher Zeitgenossen nicht drastisch genug formulieren kann. Symptomatisch für die sich mancher Orts hartnäckig haltende Fehleinschätzung der Situation ist das folgende ''Argument'':

''WAS WIRD AUS DEN SCHÜLERN, DIE BISHER NUR IM A)-TEIL EINER ABI-AUFGABE PUNKTE MACHEN KONNTEN?''

Was ist das für eine Logik! Soll sich die Innovation nach dem a)-Teil einer heutigen Abi-Aufgabe richten, einer Aufgabe, die meistens von gestern und gestern von vorgestern übernommen wurde? Ganz zu schweigen davon, daß wir an den Gymnasien wohl nicht dazu verpflichtet sind, einem Schüler die Studierfähigkeit zu bescheinigen, sobald er nur eine Funktion zweimal ableiten kann.

Lassen Sie uns doch die Argumentation vom Kopf auf die Füße stellen! Tatsache ist doch (und das wird inzwischen von fast allen akzeptiert, die sich ausreichend mit der Materie beschäftigt haben), daß wir einen Innovationsschub ungeahnten Ausmaßes bekommen werden, wenn die Hardware-Entwicklung, die Entwicklung der CASe und die Verbreitung der Telekommunikation in den nächsten fünf Jahren ihre Wirkung zeigen. Ich bin Herrn Koller dankbar für die gelungene Darstellung der Inhalte und Methoden, die von einem CAS ''bedroht'' sind. Es reicht eben nicht aus, schlicht zu sagen ''alle!''. Man muß sich das immer wieder im einzelnen klar machen, was das heißt: alle. Wir müssen vor allem die Extrapolation wagen oder -- etwas pathetischer -- die Vision. Lassen Sie mich deshalb meine Erfahrungen mit CASen in ein paar Sätzen skizzieren; man kann es wie gesagt nicht oft genug erzählen und nicht drastisch genug schildern.

Vor etwa fünfzehn Jahren habe ich zum ersten Mal mit einem CAS gearbeitet. Es hieß damals REDUCE und war in LISP geschrieben. Der Geburtsort von CASen ist die Hochenergiephysik, denn man wollte dort schon immer die Berechnung von Wirkungsquerschnitten automatisieren. Man kann also REDUCE die Bestandteile eines Feynmangraphen eingeben (äußere Linien, innere Linien und Vertices) und bekommt die fertige Formel (z.B. in FORTRAN), die man von Hand nicht berechnen könnte, weil sie über fünf DIN-A-4 Seiten geht oder mehr. Die Programme wurden damals von Lochkarten eingelesen, und man mußte im batch-Betrieb etwa einen halben Tag warten, bis man das Ergebnis hatte -- ein simpler Tippfehler konnte also einen halben Tag kosten. Dem Plotter konnte man zusehen, wenn er mit der Feder gemächlicher das Papier fuhr ... Trotzdem war das damals ein Wunder, denn es funktionierte prinzipiell: man hatte die Maschine zum Denken gebracht und nicht nur zum Arbeiten. Aber ich muß gestehen, daß ich damals selbst noch nicht konsequent weiterdachte. Das war eben die Physik, die ich für die Uni machte -- mit der Schule hatte das nicht viel zu tun. In ferner Zukunft vielleicht einmal, wer weiß das schon.

Heute weiß ich es. Heute habe ich solche Programme auf meinem PC, und das Wunder, auf das man gestern einen halben Tag warten mußte, kann ich heute in einer halben Minute auf den Bildschirm zaubern, hochaufgelöst und in Farbe und interaktiv manipulierbar. Aber das kann natürlich nicht nur ich, das kann jeder 11.-Klässler. Deshalb mache ich kein zweites Mal den Fehler, den ich vor fünfzehn Jahren gemacht habe, und versuche konsequent weiterzudenken: wie wird es in fünfzehn Jahren aussehen, wenn wir das alles extrapolieren -- exponentiell natürlich?

Wer sich gerne am a)-Teil der Abi-Aufgaben von vorgestern orientiert, hat noch eine Gnadenfrist, weil den Schulträgern ''das Geld fehlt''. Übrigens eine bemerkenswerte Situation: nach bundesweiten Umfragen besitzt etwa ein Drittel unserer Schüler leistungsfähige Computer (486) oder hat dazu Zugang (je Beruf der Eltern). Diese Schüler können also zu Hause mit CASen arbeiten, während an den Schulen veraltete Modelle herumstehen und die meisten Lehrer sich gegen die ständig steigende Flut neuer Software wehren. Wenn das so weiterginge, würde sich das Gymnasium selbst abschaffen, weil die Schüler zu Hause bessere Lernbedingungen vorfinden als an der Schule, weil die Kinder betuchter Eltern das zu Hause leichter lernen können, was sie morgen im Beruf wirklich brauchen: den Umgang mit moderner Technologie und nicht die Lösung eines a)-Teils einer Abi-Aufgabe von heute oder gestern. Und das gilt nicht nur für die Naturwissenschaften.

Ich hoffe aber, daß es nicht so weitergeht, ich hoffe, daß wir auch an den Gymnasien dazu in der Lage sind, uns etwa in folgende Situation hineinzudenken:

In fünfzehn Jahren haben wir die Notebooks an der Schule. Wir werden dann z.B. mit MapleXYrelease70 im Netzwerk arbeiten -- international natürlich. Die Lerneinheiten, Aufgaben und Klausuren stehen in einer Datenbank, der Computer führt Buch darüber, welcher Schüler welche Aufgabe mit welchem Erfolg bearbeitet hat. Und der Lehrer?

Es wird weniger Lehrer geben, zur Freude des Finanzministers (der auch in fünfzehn Jahren nur ein Finanzminister sein wird). In jeder Fachschaft eine kleine Gruppe, die die Datenbank pflegt, sich neue Aufgaben ausdenkt und die Kommunikation steuert. Lehrer werden nicht mehr im herkömmlichen Sinn unterrichten, weil die herkömmlichen Medien in Museen stehen. Sie werden nur noch die Aufgabe haben, das Unterrichtsmedium Computer auf dem Laufenden zu halten. Die aktive Betreuung bei der Arbeit wird Schülern übertragen, die in Gruppen arbeiten -- auch zu Hause. Eine Zeit lang wird man die Anträge der SMV, daß der Schüler seinen Arbeitsplatz selbst wählen kann, ablehnen. Aber die Schulträger werden bald erkennen, daß man sich mit der Telekommunikation ganze Schulgebäude sparen kann, und so wird sich das ''Fernstudium'' via Modem durchsetzen. Wer das belächelt, orientiert sich immer noch am a)-Teil einer Abi-Aufgabe von gestern. Aber die Zahl derer, die sich an solchen Szenarien orientieren, wird morgen größer sein als heute. Für viele mag das eine Horrorvision sein: der Computer als Lehrer -- wo bleibt da die soziale Komponente, wo bleibt da der Mensch?

Das liegt eben an uns Lehrern von heute. Wir haben es in der Hand, dieses Werkzeug (Teufelszeug?) richtig einzusetzen, und wie bei jedem Werkzeug auszuloten, wozu es gebraucht werden kann und wozu es nicht gebraucht werden darf. Denn nicht alle Maßstäbe werden ungültig, und je früher wir unsere Verantwortung wahrnehmen, desto leichter können wir Bewährtes bewahren. Wenn wir diese Chance aber ungenützt lassen, wird uns die Entwicklung außerhalb der Schule bald noch weiter voraus sein (überholt hat sie uns ja schon lange), und man wird uns in fünfzehn Jahren sagen: ''Ihr hättet es besser wissen müssen! Warum habt ihr nicht konsequent weitergedacht?''

Oder wie wäre es mit folgender Version der Vision.

Früher oder später werden ein paar clevere junge Lehrer sich nicht mehr damit abfinden, nach langem Studium mit all ihrem Wissen auf der Straße zu sitzen. Sie werden die Marktlücke entdecken, die Softwarefirmen jetzt schon entdeckt haben: man kann Wissen auf privater Basis gut verkaufen und ebenso kann man auch Bildung verkaufen. Warum also länger warten, bis die nächste Revision den Bildungsplan von vorgestern auf den Stand von gestern bringt? Warum also warten, bis der Schulträger die heillos veralteten Computer gegen weniger veraltete eintauscht? Es gibt viele gut ausgerüstete und interessierte junge Leute mit interessierten Eltern, die nur darauf warten, zeitgemäß ausgebildet zu werden. Es gibt weltweit leicht zugängliche Wissensbasen, die mit ausgeklügelten Programmen in atemberaubender Geschwindigkeit nach allem abgesucht werden können, was man nur wissen will -- wenn man nur weiß, wie man das macht. Also werden sich Privatschulen etablieren, kleine bewegliche Gruppen mit ein bis zwei Lehrkräften pro Fach werden im Stil einer Mailbox arbeiten und Wissen und Bildung über die Leitungen schicken. Prüfungen? Klassenarbeiten korrigieren? Wozu denn das? Das macht der Schüler mit dem Computer selbst, man muß ihm nur beibringen wie. Der interessierte Schüler merkt selbst, ob er etwas begriffen hat oder nicht -- spätestens dann, wenn er Konkurrenz bekommt. Und wenn er nicht weiterkommt, klinkt er sich wieder in die Wissensbasis ein -- gegen Gebühr.

Von den elektronischen Privatschulen werden diejenigen das Rennen machen, die

· das Wissen immer auf dem neuesten Stand halten

· den Zugang zu Wissen komfortabel anbieten

· und ... früh genug gestartet sind.

Damit wäre doch allen geholfen! Die chronisch leeren Kassen der staatlichen Bildungseinrichtungen könnten geschlossen werden, weil diese Einrichtungen selbst geschlossen werden oder nur noch einen Minimalbeitrag leisten -- ganz im Sinne des Finanzministers. Junge und gut ausgebildete Lehrer (die zeitgemäße Bildung haben sie sich autodidaktisch erworben) würden ihr Geld verdienen, und unsere Jugend müßte nicht mehr in die Schule gehen, sondern könnte etwas lernen. Für morgen. Inhalt

2. Zum Einsatz von Maple

Angesichts unseres letzten Treffens ist es wichtig, noch einmal hervorzuheben, daß Maple am IKG

in Klasse 11

in zwei Informatik-Grundkursen (12/13)

und in zwei Physik-Leistungskursen (12/13)

mit Erfolg eingesetzt wurde, d.h.

· Die Schüler waren nach kurzer Zeit in der Lage, dieses Werkzeug (je Fach) sinnvoll anzuwenden

· Der Lehrer hat seine Unterrichtsvorbereitung zum größten Teil auf dieses neue Medium umgestellt

· Der Unterricht läuft meist in Gruppenarbeit ab

· Referate statt Rechenaufgaben

Damit der Arbeitsaufwand für diese Neuerungen in erträglichen Grenzen bleibt, muß das Ganze organisiert werden. Die Organisation beginnt bei einer übersichtlichen Datenhaltung. Ich möchte deshalb hier vorstellen, wie man das mit Maple machen kann.

Alle Worksheets tragen den gleichen Kopf, der automatisch beim Aufruf von Maple geladen wird. Auf diese Art können im worksheet die zur Katalogisierung notwendigen Einträge gemacht werden. Nun benötigt man ein Programm, das umordnet oder den gezielten Zugriff auf einzelne Informationen erlaubt. Beispiel: Das Stichwort Ableitung kommt in den Referaten von Marianne, Emil und Hugo vor, die ihre worksheets marianne.ms, referat.ms und meines.ms getauft haben. Wie können diese drei, ohne sich gegenseitig zu fragen, von ihren Beiträgen erfahren? Es muß eine Liste vorhanden sein, in der diese Einträge stehen und eineindeutig zugeordnet werden können: ein Index also, der aber ständig ergänzt werden kann. Wir haben im Informatikunterricht Pascal-Programme mit verketteten Listen geschrieben, die das in etwa leisten. Zeitaufwand (incl. Oberfläche): ein halbes Jahr (benotete Referate anstatt einer Klausur). Mit Maple läßt sich ein solches ''Programm'' an einem Nachmittag erstellen, weil Maple eine Listen-orientierte Sprache ist und über den wunderbaren Datentyp table verfügt (und die Oberfläche schon fertig ist!).

Es folgt ein Prototyp dieses worksheets stich.ms; die neueren Versionen werden zur Zeit mit release3 überarbeitet. Aus Platzgründen sind nur die Stichworte und worksheets aufgeführt, die zu dieser ersten Version passen, es liegen aber etwa noch einmal so viele Schüler-worksheets vor, die noch nicht katalogisiert sind, sowie umfangreiches Material neueren Datums zum Physikunterricht. Bitte achten Sie auf die Vielfalt der Themen, die man mit einem CAS bearbeiten kann. Wenn Interesse besteht, können die worksheets auch über eine Mailbox verteilt werden . Inhalt

3. Neue Lernziele

Manchem Mathematiklehrer ist nicht wohl bei dem Gedanken, daß mit dem Computer auch Elemente der Informatik in den Unterricht kommen werden. Das sei dann nicht mehr die Mathematik. Welche Mathematik? Natürlich nicht die von gestern. Aber wir beschäftigen uns hier ja mit der Mathematik von morgen und darin werden folgende Lernziele vorkommen.

(Es ist sinngemäß immer zu ergänzen: wissen, können, verstehen, vermuten, entdecken, interpretieren, bestätigen, beweisen, kontrollieren, dokumentieren, mitteilen, ... )

3.1. CAS

· Bedienung:

· Handling: sich im System zurechtfinden

· Editieren, Laden, Speichern

· Datenpflege, Index-update

· on-line-Hilfe: gewußt wo und wie

· library

· Sprache:

· Syntax beherrschen für

· Termmanipulation

· Datentypen

· Zuweisung / Bindung

· Funktion / Prozedur

· Hin- und Rückübersetzung (unkommentierte Programme lesen können)

· Fehlersuche

· Algorithmen, Bedingungen, Schleifen

· Logik

3.2. Mathematik

· herkömmliche Aufgaben und Lösungen: mit dem Computer kontrollieren, Computer als flexibles interaktives Lösungsbuch

· Computer-Ergebnisse von Hand kontrollieren:

· Plausibilitätsbetrachtung (kann das stimmen? Warum kann das nicht stimmen?)

· Überschlagsrechnung

· Skizzen

· andere Lösungswege

· Reproduzierbarkeit

· Bedingungen (Parameter) ändern / Tests

· inhaltlich neue Aufgaben (inverse Problemstellung kommt in der Praxis ja häufiger vor als ''die Schulaufgabe'')

· ''Wie muß die Gleichung/Fkt. lauten, damit ...?'' (statt: ''Geg. ist die Gleichung ... berechne!'')

· ''Wie ändert sich die Lösung mit dem Parameter ...?''

· ''Welche Parameter sind wichtig ...?''

· ''Welche Näherung kann man verwenden ... ?''

· Vergleich von geschlossenen und numerischen Lösungen

· Methodenvergleich

· graphische Darstellungen lesen und interpretieren

· Graphiken gezielt erstellen und ändern

· Algorithmen aufstellen, darstellen, optimieren

3.3. Physik

Alles oben genannte. Dazu kommt noch:

· Meßreihen auswerten

· Fehlerrechnung

· Hypothesenbildung (CAS-unterstützt)

· ''Was -- wäre -- wenn -- Physik''

· Animation

· Simulation

· Modellbildung

In der Physik wird sich außerdem das ''elektronische Handbuch'' (siehe Mathcad) etablieren. So wird z.Zt. am IKG mit Maple (und dem wunderbaren Datentyp table) eine physikalische Formelsammlung geschrieben. Wozu? Da gibt's doch schon genügend gedruckte!

Die können aber alle keine Gleichungen lösen und ... und ... und ...