Neue Technologien im Unterricht

Dr. M. Komma

Aus einem Vortrag vom 22.3.96 in Erfurt am Thüringer Institut für Lehrerfortbildung, Lehrplanentwicklung und Medien (Thillm)

 

Vor Kurzem dachte man in Deutschland bei dem Stichwort „Computer im Unterricht" noch fast ausschließlich an Informatik, allenfalls noch an Vokabel-Lernprogramme, und nur die ganz Modernen konnten mit Computer-Algebra-Systemen etwas anfangen. Daß die Entwicklung auf diesem Sektor aber längst viel weiter fortgeschritten ist, und daß weltweit der Computer in der Erziehung auch dort eingesetzt wird, wo es in unserem Land noch belächelt wird, zeigen eindrucksvoll die Berichte von internationalen Konferenzen wie z.B. die International Conference on Computers in Education (ICCE) vom Dezember 95 in Singapore oder die Weltkonferenz Eductional Multimedia and Hypermedia vom Juni 95 in Graz. Insbesondere in Japan hat die NTT (Nippon Telegraph and Telephone Corporation) die neuesten Konzeptionen schon in großem Umfang verwirklicht und treibt die Forschung energisch voran. Die Schwerpunkte des Programms zur Tele-Education werden in einem Bericht von Prof. Y.Nakamura (executive Manager von NTT) etwa so wiedergegeben:

I. Research on distributed virtual campus. In diesem „verteilten virtuellen Universitätsgelände" von morgen, kann sich jeder an jedem Ort und zu jeder Zeit bewegen und er wird dort folgende Lern-Typen vorfinden:

  1. Lecture type: in einem virtuellen Klassenzimmer kann man sich zu beliebiger Zeit unterrichten lassen (etwa im „alten" Stil des Frontalunterrichts).
  2. Self-learning type: der Prototyp einer „computer-assisted instruction" (CAI) Umgebung wird im WWW realisiert und bietet Zugang zu globalen Resourcen.
  3. Laboratory type: der Prototyp einer collaborativen Lernumgebung (HyCLASS = Hyper Collaborative Learning Application in Shared Space), in der mehrere Schüler die gleiche Lernsoftware benützen und Erfahrungen und Ergebnisse austauschen.
  4. Authoring type: eine Umgebung, die die unkomplzierte Herausgabe von Hypertexten unterstützt.

 

Zur Verwirklichung der in I. genannten Ziele muß die Forschung außerdem auf folgende Gebiete ausgedehnt werden:

II. Distributed real-time operating systems: z.B. Wiedergabe von Videos (Bild und Ton) oder allgemeiner das „handling of continuous media objects".

III. Multimedia communication protocols: z.B. Breitband-Kommunikations-Netzwerke.

IV. Multimedia application integrated circuit: spezielle digitale Signalprozessoren entlasten die CPU.

Zumindest in Japan beginnen also Techniker, den Didaktikern die Arbeit abzunehmen. Während man sich in unserem Land noch die Sinnfrage stellt, haben Pragmatiker die Lernmethoden schon so gründlich verändert, daß es keinen Sinn mehr macht, bedingungslos am herkömmlichen Unterricht festzuhalten. Manche sehen ein Unterrichtsparadies auf uns zukommen, andere warnen vor einer Datensintflut. Sicher ist nur, daß wir alle in ein Abenteuer gehen, das wir nur dann bestehen, wenn wir uns nicht ausschließlich am Machbaren orientieren. Gleichwohl bleibt aber gerade in der Phase der stürmischen Entwicklung der neuen Technologien die Kenntnis des Machbaren die wichtigste Voraussetzung um mitreden und mitentscheiden zu können. Was ist also z.B. in den Fächern Mathematik und Physik mit den neuen Technologien machbar?

Am Isolde-Kurz-Gymnasium in Reutlingen wird z.Zt. eine Wissensbasis aufgebaut, die unter der Internet-Adresse http://userwst1.fh-reutlingen.de/~komma zu erreichen ist. 

Update: Inzwischen ist daraus der CAS-Server Baden-Württemberg geworden

Der geneigte Internet-Leser kann dort nachvollziehen, in welchem Maß die neuen Möglichkeiten die Methoden aber auch die Inhalte des naturwissenschaftlichen Unterrichts von morgen ändern werden. Natürlich wird diese Wissensbasis, an deren Aufbau übrigens Schüler sehr stark beteiligt sind, auch auf dem lokalen Netz der Schule genutzt. Die Schwerpunkte unserer Untersuchungen seien im folgenden kurz skizziert.

 

1. Selbständiges Lernen

a) Mit einem WWW-Navigator kann der Schüler die gewünschte Information (Aufgaben, Programme, Bild- und Tonmaterial usw.) finden. Von entscheidender Bedeutung ist dabei die Hyperlink-Technik, die ein problemloses Springen von einer Anwendung zu einer anderen gestattet. Erst dadurch wird ein problemorientiertes Denken über die Grenzen eines einzelnen Faches hinaus möglich.

b) In den Fächern Mathematik und Physik wird das Computer-Algebra-System Maple eingesetzt. Auch hier steht die offene Struktur im Vordergrund, die durch Arbeitsblätter (Worksheets) ermöglicht wird. In der neuen Release 4 von Maple sind darüber hinaus Hyperlinks zu anderen Worksheets oder zu Hilfethemen möglich. Befreit von der Rechenarbeit kann sich der Lernende nun dem Kern des jeweiligen Problems widmen und mit anderen kommunizieren.

 

2. Aufbau und Verwaltung der Wissensbasis

a) Die Strukturierung von Web-Seiten, die zu ernsthaftem Lernen verwendet werden sollen (wobei aber die Freude am Gestalten nicht ausgeschlossen wird), erfordert eine Reihe sogenannter Schlüsselqualifikationen. Bei der Kooperationsbereitschaft und der Bereitschaft zur Verantwortung sind hier aber nicht nur die Qualifikationen der Schüler gemeint.

b) Die Nutzung von globalen Ressourcen erfordert die Fähigkeit zur gezielten Informationsbeschaffung. Dies ist wohl eines der wichtigsten Lernziele in der modernen Kommunikationsgesellschaft. Neben der Nutzung anderer Web-Seiten werden hier die Teilnahme an News-Groups und der weltweiten elektronischen Post geübt.

 

Bilanz

Obwohl wir erst über eine Erfahrung von etwa zwei Jahren verfügen, läßt sich folgende Bilanz ziehen: Die meisten Schüler werden durch die neuen Technologien hoch motiviert. Die Gewöhnung an das selbständige Lernen dauert nach 10 Jahren vorwiegend rezeptivem Lernen aber etwa ein Jahr. Spätestens nach dieser Gewöhnungsphase entsteht aber „der neue Schüler" mit den neuen Qualifikationen, die wir uns alle so sehr wünschen. Leider nützen ihm aber diese neuen Qualifikationen in einem alten Abitur, in dem Wissen und Fertigkeiten abgefragt werden, nicht viel (im realen Leben oder auch nur im Studium dafür um so mehr).

Die meisten Lehrer haben den Anschluß an die neuen Technologien noch nicht geschafft oder sich noch gar nicht damit auseinandergesetzt. Auch hier steht eine oft mehr als 20-jährige (oft dozierende) Unterrichtspraxis der Innovation im Weg. Der „neue Lehrer" wird nicht mehr auf eine 20 Jahre alte Unterrichtsvorbereitung zurückgreifen können. Er wird es mit Problemen und Informationen von heute zu tun haben.

Die Industrie (Hardware und Software) sowie die Verlage orientieren sich nicht an den Defiziten im didaktischen Bereich, sondern am Machbaren und an Marktlücken. Ohne eine umfassende Planung in der Bildungspolitik (von der Ausstattung mit Hard- und Software bis hin zu einer breit angelegten Lehrerfortbildung) werden die neuen Technologien an den deutschen Gymnasien vorbeigehen.

Die Frage lautet nicht, ob wir die neuen Technologien bejahen oder verneinen - sie sind da. Die Frage ist, wie wir diesen in jedem Fall irreversiblen Prozeß sinnvoll gestalten können.

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